AKT 1
SZENE 01 – “NICHTS ENTSTEHT UND NICHTS GEHT VERLOREN...”
SZENE 02 – “DIE GENERALPROBE”
SZENE 03 – “OUVERTÜRE”
SZENE 04 – “TRÄUME UND VERSPRECHEN”
SZENE 05 – “DAS PARADIES DER AUSGESTOSSENEN”
SZENE 06 – “GESCHMINKTE NARBEN”
SZENE 07 – “POETISCHE GERECHTIGKEIT”
SZENE 08 – “LEBEN IST VIBRATION”
SZENE 09 – “DIE MASKERADE”
SZENE 10 – “RUHM UND ABGRUND”
AKT 2
SZENE 11 – “DER PREIS DER SEELE”
SZENE 12 – “DER SCHATTEN DES VERRATS”
SZENE 13 – “DIE STILLE REBELLION”
SZENE 14 – “REISE NACH JERUSALEM”
SZENE 15 – “STILLE MUSIK”
SZENE 16 – “DER ZERBROCHENE SPIEGEL”
SZENE 17 – “DER LETZTE ZUG”
SZENE 18 – “EIN UNSCHULDIGES VERBRECHEN”
SZENE 19 – “DER WIDERSTAND”
SZENE 20 – “...ALLES VERWANDELT SICH”
Im Dunkel einer leeren Bühne spielt ein Waisenmädchen auf ihrer kleinen Panflöte, während sie Zeitungen durch die Straßen des Barrio Chino verkauft. Mit einem sarkastischen und poetischen Ton führt sie uns in das Universum von La Criolla ein: ein Tempel des Verderbens und der Schönheit, wo Elend und Musik, Übertretung und Wahrheit koexistieren. Mit Ironie und Klarheit hinterfragt sie die menschliche Natur und widmet diese Geschichte den unbezähmbaren Seelen, die trotz ihrer Kindheit in der Dunkelheit beschließen zu leuchten. Diese Szene ist weder eine Erinnerung noch ein Rückblick: sie ist eine Beschwörung. Der Beginn einer Feier, die das Leben explodieren lassen will, bevor die Geschichte es in Stücke reißt.
Wir befinden uns im Jahr 1925. Die Bühne verwandelt sich in ein Gewimmel von Stimmen, Rufen und Geräuschen: Musiker stimmen ihre Instrumente, Varietékünstler proben, Arbeiter malen... Es ist der Vorabend der großen Eröffnung von La Criolla. Maestro Riera dirigiert mit chaotischer Begeisterung, und Manager Pepe rechnet zwischen Zigaretten und Versprechen. Alles scheint kurz vor dem Ausbruch zu stehen, als der Journalist Paco Madrid erscheint, entschlossen, eine Chronik zu schreiben, die diese einmalige Nacht unsterblich macht. Mitten im Durcheinander beginnt die Magie zu pulsieren. La Criolla, das frechste Kabarett Barcelonas, bereitet sich darauf vor, als Mythos geboren zu werden.
Zum ersten Mal öffnet La Criolla ihre Türen – mit einer fulminanten Show, die die Stadt begeistert. Das Orchester spielt fieberhafte Melodien, während der legendäre Verwandlungskünstler Leopoldo Fregoli eine unvergessliche Vorstellung liefert, in der er vor den staunenden Zuschauern blitzschnell seine Identität wechselt. An diesem Abend ist La Criolla pure Pracht – doch hinter dem Lächeln und dem Rausch sind bereits Anzeichen einer stürmischen Zukunft zu spüren. Heute jedoch gibt es nur Platz für das Fest und die Ekstase.
Nach dem ersten Erfolg verspricht Pepe seinen Angestellten Ruhm und Reichtum – ohne Verträge. Xavier Cugat sendet Glückwünsche aus Hollywood, und Paco Madrid erklärt den Ort zum neuen Modezentrum Barcelonas. Alles scheint möglich, doch erste Spannungen entstehen durch bevorzugte Behandlungen und misstrauische Blicke. Die Feier geht weiter mit Lobreden und Trinksprüchen, doch eine beunruhigende Frage schwebt im Raum: Wie lange halten Versprechen, bevor die Realität sie zerstört?
La Criolla wird zum Zufluchtsort für Ausgestoßene, Künstler, dekadente Aristokraten und verlorene Seelen. In diesem vergänglichen Paradies bleibt die Gesellschaft außen vor, und jeder lebt seine wahre Identität frei aus. Doch unter der festlichen Oberfläche verbergen sich Spannungen und Machtspiele, die jederzeit explodieren könnten. Zwischen Rauch, Musik und Gefahr feiert La Criolla jede Nacht, als wäre sie die letzte.
Hinter der Bühne brechen Rivalitäten zwischen den Tänzerinnen in Vorwürfen und Eifersucht aus. Flor de Otoño entdeckt unter dem Make-up von Luz eine versteckte Wunde – sie ist Opfer von Misshandlungen. In einem unerwarteten Akt der Solidarität versorgt Flor Luz’ Wunde – und zeigt, wie wichtig gegenseitiger Schutz in einer grausamen Welt ist. Die Narben sind nicht nur verborgen, sondern geteilt.
Nach Jahren des Missbrauchs tötet Luz ihren Zuhälter Mariano. Sie wird festgenommen und angeklagt. Flor de Otoño übernimmt ihre Verteidigung vor Gericht. Das ganze Viertel steht ihr bei – außer Pepe, der seine tyrannischste Seite zeigt. Schließlich wird Luz wegen Notwehr freigesprochen, doch Pepes Verrat hinterlässt eine tiefe Wunde in La Criolla, wo allen klar wird: Gerechtigkeit ist ein Luxus der Mächtigen.
Maestro Riera denkt über den Sinn des Lebens nach und behauptet: Das Leben ergibt nur Sinn, wenn es wie eine leidenschaftliche, echte Melodie gelebt wird. Obwohl er in einer materialistischen und korrupten Gesellschaft lebt, glaubt er fest daran, dass Musik eine lebensspendende Kraft ist. Doch er fragt sich, ob für Schönheit noch Platz ist in einer Welt, in der Macht und Geld regieren. Seine Stimme bleibt seinem Credo treu – auch wenn vielleicht niemand zuhört.
La Criolla feiert Karneval mit einem ausgelassenen Fest, das gleichzeitig dazu dient, Geld für die Renovierung des Lokals zur Weltausstellung 1929 zu sammeln. Der finanzielle Erfolg ist durchschlagend, doch hinter den Masken brodeln Ehrgeiz und Spannungen. Als die Feier endet, schlägt die Realität unbarmherzig zu – eine Erinnerung daran, dass Ruhm immer einen Preis hat.
Mit der Weltausstellung verwandelt sich La Criolla in ein tropisches und kosmopolitisches Paradies. Erfolg und Einnahmen sind überwältigend, doch hinter dem glitzernden Luxus beginnen sich dunkle Schatten abzuzeichnen. Auf dem Höhepunkt des Ruhms spürt La Criolla den Abgrund, der geduldig auf seine Chance wartet.
Der Glanz von La Criolla beginnt zu bröckeln, als Geld aufhört, ein gemeinsamer Traum zu sein, und sich in eine Waffe der Macht verwandelt. Pepe, nun ein unerbittlicher Despot, beutet seine Arbeiter aus, während die Versprechen von Gerechtigkeit und Gleichheit verblassen. Die Atmosphäre wird düsterer, und die Künstler schwanken zwischen Unterwerfung und Widerstand, wohl wissend, dass es alles kosten könnte, das System herauszufordern. In dieser neuen Realität verliert die Kunst an Wert – und die Seele hat ihren Preis.
La Criolla wird zu einem Nest aus Intrigen und Verrat: Pepe macht Geschäfte mit Mafiosi und Faschisten, und La Asturianita entpuppt sich als Informantin der Falange. Das Gerücht über einen Besuch Trotzkis erzeugt Spannung und Paranoia, die mit der Ankunft eines falschen Revolutionärs eskalieren, der eine Polizeirazzia auslöst. Mit Hilfe der Vedetten kann die mysteriöse Figur entkommen und entpuppt sich als Revolverheld der freien Gewerkschaft. Währenddessen zeigt Sarah erste Symptome eines Leidens, das sie still verzehren wird.
Sarahs Krankheit ist unübersehbar, doch anstatt Mitgefühl zu erfahren, wird sie von Pepe verachtet und aus dem Lokal geworfen, um die Kundschaft nicht zu verschrecken. Die Arbeiter sind empört und erinnern sich an gebrochene Versprechen, aber die Angst, ihre Arbeit zu verlieren, lässt sie schweigen. Nur La Asturianita bleibt Pepe treu und schmiedet mit ihm Pläne zur Übernahme des Geschäfts. Sarah verlässt die Bühne gedemütigt und allein – der Aufstand hat begonnen, doch ihre Stimme fehlt noch.
Nach Sarahs Tod erscheint Jean Genet in La Criolla – eine neue Kraft, die das Gleichgewicht ins Wanken bringt. Geheimnisvoll und provokant arbeitet er für einen Zuhälter und drängt sich mit Arroganz auf. Seine Ankunft stört Luz und Flor de Otoño, die sehen, wie sich die Macht im Kabarett verschiebt. In diesem neuen Machtspiel ist niemand sicher – wenn die Musik verstummt, fällt jemand. Mit Genet auf der Bühne wird alles unbeständiger.
Sarahs Tod hüllt La Criolla in Schweigen. Luz, Flor und Maestro Riera leben mit dieser Abwesenheit, während der Ort seinen Geist zu verlieren scheint. Paco Madrid und der Maestro diskutieren über Kunst und den Sinn des Lebens – ein Ringen zwischen Vernunft und Gefühl. Riera antwortet mit Musik, einer letzten, zerbrechlichen und ehrlichen Melodie. Als der letzte Ton verklingt, bestätigt die Stille den langsamen Zerfall einer Welt, die sich in Nebel auflöst.
Pepe verschwindet mit dem gesamten Geld, und La Criolla bleibt wirtschaftlich und moralisch verwüstet zurück. Die Arbeiter, verlassen und verraten, sehen ihren Traum zerbröckeln. Flor de Otoño deckt La Asturianitas Komplizenschaft beim Diebstahl auf und erkennt, dass der Spiegel, der einst Versprechen widerspiegelte, nun nur noch ein gebrochenes Abbild zeigt. La Criolla ist nur noch ein Schatten ihrer selbst.
Flor de Otoño gelingt es, La Criolla zu retten – mit dem Geld, das sie durch Erpressung jener Mächtigen erhielt, die sie einst verachtet hatten. Mit der stillen Unterstützung von Maestro Riera setzt sie ihre eigene Gerechtigkeit durch. Doch dieser Schritt verurteilt sie zu einem unsicheren Weg. Sie ist weder Heldin noch Verbrecherin – sondern eine tragische Figur zwischen zwei Welten. Der Vorhang ist noch nicht gefallen, aber die Tragödie hat längst begonnen.
Pepe eröffnet ein neues Kabarett, Barcelona de Noche, doch einen Monat später wird er ermordet. Alle Augen richten sich auf die früheren Weggefährten aus La Criolla – doch es gibt keine Beweise. La Asturianita, nun auf der Seite der Mächtigen, schürt die Verdächtigungen. Das Verbrechen – ohne Schuldige, ohne Strafe – löst sich im Chaos eines drohenden Krieges auf. Gerechtigkeit bleibt aus, nur ein weiterer Schatten bleibt zurück.
Mit Pepe, Sarah und Genet von der Bühne verschwunden, versucht La Criolla als Künstlerkooperative zu überleben. Trotz der bevorstehenden Bombenangriffe klammern sich die Arbeiter an die Hoffnung und die Erinnerung an das, was sie waren. In einem letzten Akt des Widerstands wollen sie die Seele des Lokals bewahren – auch wenn alles verschwinden könnte, sie werden bis zuletzt vibrieren.
Von den Mächtigen verfolgt, geht Flor de Otoño ins Exil und hinterlässt einen Abschiedsbrief. Doch ein Bombenangriff zerstört La Criolla – und den Traum, den sie verkörperte. Das Waisenmädchen, zwischen den Trümmern, liest den Brief und gibt der Erinnerung ihre Stimme. Als sie sagt: „Musik, Maestro!“, wird der Geist des Kabaretts symbolisch wiedergeboren. Trotz der Zerstörung wird La Criolla zur Legende – zu Musik, die niemals verstummen wird. Die Musik ist nicht tot – sie hat nur ihre Form verändert. Und alles, was sie bedeutete, lebt weiter in der Erinnerung jener, die sie geliebt haben. Denn das Leben hört nicht auf – es dreht und dreht sich, in einem ewigen Kreislauf, in dem Ende und Anfang eins sind.
La Nena (La Criolla) ist eine subtile, aber wesentliche Präsenz in La Criolla – ein junges, dunkelhäutiges Waisenmädchen, das durch die Straßen des Raval, des Paral·lel und der Rambla zieht, um Zeitungen zu verkaufen. Sie agiert als Zeugin der Zeit, verbindet die Außenwelt mit dem geschlossenen Universum des Kabaretts und ruft die Schlagzeilen der Nachrichten, die Barcelona erschüttern, aus. Ihre zerbrechliche Gestalt, gehüllt in schlichte und praktische Kleidung, fällt durch den markanten Klang auf, den sie vor jeder Ankündigung mit ihrer kleinen Panflöte erzeugt – als würde sie den unerbittlichen Lauf der Geschichte markieren.
Mit der Zeit entwickelt sich La Nena weiter und spiegelt die Narben der Stadt und der Figuren von La Criolla wider. Ihr Blick, zunächst neugierig und unschuldig, wird weiser und vielschichtiger. Zu Beginn und am Ende des Stücks liest sie im Gästebuch des Lokals und schließt damit den Kreis des kollektiven Gedächtnisses. In ihrem letzten Auftritt erklingt ihre Stimme auf der Bühne, als sie den Abschiedsbrief von Flor de Otoño vorliest – ein Echo einer Welt, die sich auflöst, aber niemals ganz verschwinden wird.
Pepe von La Criolla war ein großer und imposanter Mann mit scharfem Blick und entschlossenem Auftreten – ein wahrer Herr der Nacht im Barrio Chino. Aus Almería stammend, machte er sich schnell einen Namen in den verruchtesten Kreisen Barcelonas, gewann den Respekt und die Furcht von Arbeitern wie Kunden. Anfänglich trat er als sympathischer und beschützender Mann auf, der Ordnung mit klugen Worten – oder wenn nötig – mit dem Stock hinter der Theke aufrechterhielt. Er verwandelte La Criolla in das pulsierende Zentrum von Lust und Tabubruch, ein Kabarett, das Künstler, Aristokraten und Kriminelle anzog – und ihn zu einem gefürchteten, einflussreichen Mann machte.
Doch der Ehrgeiz fraß ihn auf. Mit der Zeit wurde Pepe erbarmungslos, häufte Reichtum an, während er jene ausbeutete, die für ihn arbeiteten. Er betrog Musiker und Tänzerinnen, behielt Einnahmen ein und tarnte den Luxus des Lokals mit Ausreden von angeblicher Not. Er umgab sich mit mächtigen Kunden und stürzte sich in zwielichtige Geschäfte mit Mafia und korrupten Polizisten. Sein Fall war unausweichlich: von seinen Leuten verlassen und zum Symbol des Verrats geworden, fand er im Morgengrauen sein Ende – hinterrücks ermordet. Ein Verbrechen ohne Täter, ein Schweigen in den Schatten eines Viertels, das niemals vergisst.
Pere Riera ist die musikalische Seele von La Criolla, ein brillanter und leidenschaftlicher Geiger, der das kleine Orchester mit Meisterschaft und Feingefühl leitet. Ein Mann mit festen Prinzipien und pazifistischem Geist, kämpft er dafür, die Arbeit der Musiker und Künstler des Kabaretts zu würdigen, und stellt sich gegen die Korruption und Dekadenz, die ihn umgeben. Kreativ und innovativ verleiht er dem Lokal nicht nur seinen Rhythmus, sondern auch eine unverwechselbare Identität – mit einer eleganten Mischung aus Jazz, Tango und lateinamerikanischen Melodien, die jeden fasziniert, der das Kabarett betritt. Seine Freundschaft mit Flor de Otoño geht über die Musik hinaus: Gemeinsam entwickeln sie die Idee einer Künstlerkooperative – ein verzweifelter Versuch, La Criolla vor der Gier ihrer Ausbeuter zu retten.
Obwohl ihn sein Freund Xavier Cugat drängt, nach New York zu gehen, um in der Latin-Jazz-Szene erfolgreich zu sein, entscheidet sich Pere, in Barcelona zu bleiben – gebunden an seine vier Kinder und sein Leben zwischen La Criolla, dem Streichquartett von Barcelona und dem Pau Casals Orchester. Doch als die Stadt unbewohnbar wird und Gefahr jene bedroht, die das System herausfordern, ist er es, der Flor de Otoño zur Flucht verhilft und ihr eine neue Zukunft in Amerika eröffnet. Seine Musik, wie auch sein Kampf, bleibt in der Erinnerung derer, die unter seinem Taktstock getanzt haben – und macht Pere Riera zu einem Symbol des Widerstands im Chaos.
Paco Madrid ist ein Journalist auf der Suche nach einer Wahrheit, die vielleicht gar nicht existiert. Mit nur 25 Jahren kommt er nach La Criolla, fest entschlossen, dessen Wesen zu erfassen und in Worte zu fassen. Er will das Geheimnis der Magie in der Kunst, des Talents, des "Duende" entschlüsseln — jenen unwiederholbaren Moment, jenen Augenblick künstlerischer Erhabenheit, der seiner Meinung nach seziert, rationalisiert und erklärt werden muss. Doch je tiefer er in die bedrückende und zugleich magnetische Atmosphäre des Kabaretts eintaucht, desto mehr stößt er auf eine Realität, die sich seiner analytischen Sichtweise entzieht. Nichts dort lässt sich auf reine Logik reduzieren: Rhythmus, Leidenschaft, Anziehung und Tragik muss man erleben – nicht erklären.
Es ist Pere Riera, der ihm in dieser ewigen Debatte zwischen Wissenschaft und Gefühl, zwischen Verstand und Instinkt entgegentritt. Während Paco behauptet, dass sich alles mit Hormonen, Gehirnimpulsen und chemischen Reaktionen erklären lasse, antwortet Riera mit seiner Musik – und bringt ihn mit einer Melodie zum Schweigen, die keiner Rechtfertigung bedarf. In diesem Moment zweifelt Paco zum ersten Mal. Vielleicht lässt sich nicht alles in Worte fassen. Vielleicht ist Kunst kein Phänomen, das man studiert, sondern eine Erfahrung, die man lebt. Und vielleicht – egal, wie viel er schreibt – wird er nie wirklich Teil jener Welt, die er so sehr zu verstehen wünscht.
Flor de Otoño ist die rebellische Seele von La Criolla – eine faszinierende Figur, die zwischen der Verführung der Nacht und der Tragödie eines entwurzelten Lebens wandelt. Geboren als Lluís Serracant, Sohn einer wohlhabenden Familie, kehrte er seinem Herkunftsmilieu den Rücken, um die Freiheit am Rand der Gesellschaft zu leben. Jede Nacht kleidete er sich als Frau und wurde zur Ikone des Kabaretts. Charismatisch und unzähmbar, ist seine Zerbrechlichkeit nur vergleichbar mit seiner Kraft: ein kokainsüchtiger Suchender flüchtiger Lust – und zugleich ein anarchistischer Revolverheld, der bereit ist, die Macht herauszufordern. Innerhalb der Mauern von La Criolla ist er ein leuchtender Stern: ein Künstler, ein Gerechtigkeitskämpfer und ein Träumer im Kampf für die Seinen.
Als Luz, gefangen in einem Albtraum aus Gewalt, ihren Zuhälter tötet, ist es Flor, der sie vor dem Gefängnis bewahrt – ein Beweis, dass seine Loyalität über allem steht. Doch er weiß, dass seine Zeit abläuft. Er schreibt den letzten Eintrag ins Gästebuch mit einem Satz, der wie ein Epigraph klingt: „Das Leben ist ein Tango, der Tod ein Pasodoble – und man muss beide tanzen können.“ Vor seiner Flucht ins Exil hinterlässt er einen Abschiedsbrief, der zum letzten Herzschlag von La Criolla wird – das Manifest eines Lebens, das zwischen Leidenschaft und Auflehnung verglühte. Flor de Otoño verschwindet nicht: Er wird zur Legende, zur Erinnerung einer Barcelona, die seinen Namen niemals vergessen wird.
La Asturianita ist eine lebendige und übertriebene Figur, eine Persönlichkeit, die zwischen Charme und Tragödie schwankt, zwischen übertriebenem Lachen und hysterischem Weinen. Travestiert und theatralisch lebt sie für das Drama, überzeichnet jede Emotion, bis sie zur eigenen Show wird. Besessen von ihrem Erscheinungsbild, schminkt und kleidet sie sich, als wäre jede Nacht eine Premiere – und verbirgt hinter dieser Fassade eine zutiefst verletzte Person, gezeichnet von einer Vergangenheit voller Gewalt und Ablehnung. In Flor de Otoño findet sie eine Freundin und Beschützerin, jemand, der ihr Halt gibt, wenn sie von ihrer eigenen Instabilität bedroht wird.
Doch hinter dieser Maske aus Zerbrechlichkeit und Tränen steckt ein Verrat. La Asturianita ist nicht nur eine Vedette von La Criolla – sie ist eine Spitzelin, eine Informantin für die Polizei und für Pepe, die Informationen über ihre Mitstreiter gegen Geld und Sicherheit verkauft. Während das Kabarett sich in ein Zentrum der Verschwörung und des Widerstands verwandelt, wird ihre Rolle immer düsterer. Als die Wahrheit ans Licht kommt, ist es zu spät für Erlösung. Ihre Geschichte ist die eines Menschen, der zwischen zwei Welten gefangen ist: der Familie, die sie in La Criolla gefunden hatte, und der Angst, die sie zum Verrat trieb.
Sarah, "die Cubanita", ist eine der letzten großen Damen des Barrio Chino – eine Vedette mit rauer Stimme und müdem Blick, die gesehen hat, wie Zeit und Nacht viele verschlungen haben, lange bevor sie an der Reihe war. Mit ihrem sanften, melodischen Akzent bringt sie karibische Sinnlichkeit ins Kabarett und passt sich mühelos dem neuen Repertoire lateinamerikanischer Rhythmen an, das die Tanzfläche erobert. Trotz ihrer magnetischen Ausstrahlung und der Haltung einer starken Frau ist sie eine Überlebende in einer Welt, in der Schönheit und Jugend teuer bezahlt werden. Sie kennt Pepe von La Criolla besser als jeder andere, kennt seine Grausamkeit und Machtgier – und schweigt aus Angst, ihren Platz zu verlieren. Denn in ihrer Welt sind Geheimnisse eine Währung.
Doch Zeit und Krankheit kennen kein Erbarmen. Tabak und Alkohol, einst ihre Feierfreunde, werden zu ihrem Fluch und führen zu einem frühen Tod durch Tuberkulose und Leberzirrhose. Doch bevor sie geht, kehrt sie zurück, um Luz und ihre alten Weggefährten vor Pepes wahrer Natur zu warnen – und bricht so endlich das Schweigen, das sie so lange geschützt hat. Ihr Fehlen hinterlässt eine unübersehbare Leere in La Criolla: eine leere Stelle auf der Bühne und ein voller Becher an der Bar. Wenn ihre Stimme verstummt, stirbt nicht nur Sarah – es stirbt auch ein Stück der Seele des Kabaretts.
Luz ist das Licht, das sich bemüht, in der Dunkelheit von La Criolla nicht zu verlöschen. Jung, schön und mit einem noch nicht ganz zerbrochenen Geist ist sie eine Vedette und Begleiterin, die in einer Welt überlebt, in der Unschuld viel zu schnell vergeht. Ihre sanfte Stimme und ihre fesselnde Ausstrahlung verbergen ein Leben voller Gewalt und Unterdrückung – gefangen in einer toxischen Beziehung mit Mariano, ihrem Mann und zugleich Peiniger, einem skrupellosen Zuhälter, der sie physisch und psychisch misshandelt und ihr täglich eintrichtert, dass sie ihm gehöre, dass es kein Entkommen gibt.
Doch Luz will nicht stumm sterben. In einem Akt der Verzweiflung und Notwehr tötet sie Mariano und durchbricht den Kreislauf des Terrors, der sie verschlang. In einer Welt, in der Gerechtigkeit oft auf der Seite der Mächtigen steht, ist es Flor de Otoño, die ihr hilft, ihre Freiheit zurückzugewinnen – bis sie für unschuldig erklärt wird. Ihre Freisprechung wird nicht nur in La Criolla gefeiert, sondern im ganzen Barrio Chino – denn ihre Geschichte ist die vieler Frauen, die sich nie verteidigen konnten. Von diesem Moment an ist Luz nicht mehr nur eine Vedette; sie ist eine Frau, die ihr Schicksal in die Hand genommen hat – eine Stimme, die in der Nacht von Barcelona widerhallen wird, endlich befreit von ihrem Schatten.
Jean Genet kommt nach La Criolla wie ein umherirrendes Gespenst – ein junger Dieb, gewalttätig und provokativ, gezeichnet durch seine eigene Ausgrenzung. Travestit, Krimineller und heimatloser Dichter, bewegt er sich durch das Kabarett mit der Unverfrorenheit dessen, der nichts zu verlieren hat – und mit einer Klarheit, die verstört. Seine androgyne Schönheit und seine herausfordernde Haltung machen ihn zu einer unheimlichen Erscheinung, einem Außenseiter, der die Welt mit gleichgültiger Verachtung betrachtet, während er insgeheim danach dürstet, Teil von ihr zu sein. Als Sarah krank wird, nimmt er ihren Platz ein – nicht nur auf der Bühne, sondern auch in Bezug auf ihre Geheimnisse, Bündnisse und Gefahren.
Sein intellektuelles Wesen macht ihn zu einem Störfaktor innerhalb von La Criolla. Er will nicht nur überleben, sondern die Regeln herausfordern, die Grenzen von Moral und Heuchelei sprengen. Er ist ein Spiegel sozialer Ausgrenzung, verbotener Liebe und doppelter Moral – eine Figur, die ebenso verstört wie fasziniert. Seine Beziehung zu Pepe von La Criolla ist von Opportunismus geprägt: Als Pepe das Kabarett verlässt, um Barcelona de Noche zu gründen, folgt Genet ihm – denn er weiß, dass sein Überleben immer davon abhängt, in der Nähe der Macht zu bleiben… bis er sie stürzen kann.
Trotski ist ein junger Anarchist mit unruhigem Blick und aufsässigem Geist – ein Revolverheld des Freien Syndikats, der am Rand zwischen Revolution und Untergang lebt. Mit seinem Aussehen wie ein Priesterseminarist wirkt er eher wie ein Intellektueller als ein Mann der Tat, doch hinter seinen wachen Augen verbirgt sich eine Vergangenheit aus Gewalt und Flucht. Sein Spitzname, ironisch von seinen Gefährten vergeben, wird zu seinem Verhängnis: Als die Geheimpolizei und die Kriminalbrigade ihn mit dem russischen Revolutionär verwechseln, wird La Criolla zum Schauplatz einer brutalen Razzia.
Trotz seiner Verbindungen zur Unterwelt des Barrio Chino ist Trotski kein Mann der Macht, sondern einer von vielen, die inmitten des Chaos nach einer Zukunft suchen. In La Criolla lacht und konspiriert er mit Flor de Otoño, begegnet Luz und bewegt sich unter Künstlern, Kriminellen und Politikern, die in einer zerfallenden Welt ums Überleben kämpfen. Doch er weiß, dass seine Freiheit nur von kurzer Dauer ist. Die Stadt brennt, die Fronten verhärten sich – und er muss wählen: schießen oder erschossen werden. Trotski ist das Spiegelbild des aufgewühlten Barcelonas der 1930er Jahre: zu jung zum Sterben, zu gefährlich zum Überleben.
Leopoldo Fregoli, der Meister des Transformismus, betritt La Criolla wie eine lebende Legende – ein Bühnenmagier, der sich in Sekundenschnelle verwandeln kann. Weltweit bekannt für seine unglaubliche Fähigkeit, Rolle, Kostüm und Make-up mit atemberaubender Geschwindigkeit zu wechseln, wird seine Anwesenheit im Kabarett zu einem historischen Ereignis. Obwohl er sich 1920 aus gesundheitlichen Gründen zurückgezogen hatte, nimmt er im Alter von 58 Jahren ein letztes Engagement an, um La Criolla zu eröffnen – und macht es zum neuen Epizentrum des Transformismus und der Bühnenillusion.
Seine Teilnahme am Musical ist nicht nur eine Show, sondern ein Übergangsritual – der Moment, in dem eine Ikone der Vergangenheit den Staffelstab an eine neue Generation von Verwandlungskünstlern und Nachtgestalten übergibt. Vor einem ausgewählten, gebannten Publikum wird sein Auftritt zur Metapher des Wandels, des Theaters als Zufluchtsort und des Kabaretts als Tempel der Freiheit. Wenn Fregoli die Bühne verlässt, verabschiedet er sich nicht nur von einer glanzvollen Karriere – er weiht La Criolla als neues Zentrum des Transformismus und der Bühnenrevolte in Barcelona ein.
Josephine Baker betritt La Criolla wie ein Wirbelsturm aus Rhythmus, Sinnlichkeit und Widerstand. Die große afroamerikanische Diva, die Paris bereits mit ihrer bahnbrechenden Kunst und ihrem ikonischen „danse sauvage“ erobert hatte, wird zum Star einer Nacht, die in die Geschichte des barcelonischen Kabaretts eingehen wird. Mit ihrer überschäumenden Energie und ihrem exotischen Stil fügt sich Baker in den Nebel von La Criolla ein, als hätte sie schon immer zu dieser Welt gehört – einer Welt aus Exzess, Skandal und Schönheit.
Im Musical ist ihr Auftritt der Höhepunkt einer Nacht voller Magie und Grenzüberschreitung – ein Moment, in dem La Criolla zum Epizentrum der europäischen Avantgarde wird. Mit ihrer glänzenden Haut unter den Scheinwerfern und ihren hypnotischen Bewegungen verführt Baker nicht nur das Publikum, sondern durchbricht Konventionen, macht die Bühne zu einem Ort der Freiheit, Vielfalt und rassischen Selbstbehauptung. Ihr Auftritt im Kabarett ist kurz, aber unvergesslich – ein Augenblick des Ruhms, der La Criolla auf das Niveau der großen Bühnen ihrer Zeit hebt. Wenn sich ihre Stimme und ihr Körper mit der Musik vereinen, hält die Stadt einen Moment den Atem an – und die Nacht wird unsterblich.
Salvador Dalí betritt La Criolla wie eine surreale Epiphanie, eine theatralische Fata Morgana, die der Logik trotzt und die Tore des Bewusstseins zu einem Universum öffnet, in dem Traum und Realität ineinanderfließen. Mit seinem unmöglichen Schnurrbart und einer hypnotischen Stimme voller wirrer Metaphern erscheint Dalí mitten im emotionalen Chaos der Szene — ein Prediger des Unterbewusstseins, der die ultimative Mandanga mitbringt: eine Substanz, die Schmerz in Poesie und Klarheit in Wahnsinn verwandelt.
Sein Auftritt ist kein Zufall, sondern ein Ritual: ein visionärer Schamane, der den Figuren eine Pille reicht, die sie in eine Oper der Absurdität entführt, wo diakritische Zeichen Stepptanz aufführen und weiche Uhren Essig weinen. In einem Monolog voller Ambiguitäten und Paradoxa deckt Dalí die Lügen der Politik, den Betrug der Versprechen und die Künstlichkeit der Macht auf – eine scharfsinnige Kritik an der Gesellschaft seiner Zeit – und unserer.
Im Musical ist Dalí nicht einfach nur eine Figur: er ist eine ästhetische Kraft, eine Idee, ein Sturm aus visuellen und klanglichen Symbolen, der alles verändert. Seine Bühnenpräsenz, zwischen Kabarett und surrealer Unterwelt, macht La Criolla zu einem Altar des reinen Surrealismus, unmittelbar vor seinem Untergang.
Wenn Dalí verschwindet, vergeht er nicht einfach – er hinterlässt eine Spur, ein Nachglühen aus Staunen und Unruhe. Er hat Zweifel gesät, Täuschungen entlarvt und schließt seine Nummer mit einem letzten Ausruf – „Mit Mandangas komm mir nicht!“ – als würde er eine parallele Dimension versiegeln. Sein Auftritt markiert einen Wendepunkt in der Handlung: ein verspielter Wahnsinnsmoment, der Tür und Tor für Kritik, Freiheit und unzensierte Kunst öffnet. Mit ihm wird La Criolla nicht nur ein Zufluchtsort, sondern ein Aufstand.